Institutes for Advanced Study: Zentren der wissenschaftlichen Exzellenz und internationalen Vernetzung
Das SBFI unterstützt im Rahmen der internationalen Bildungszusammenarbeit ausgewählte Institutes for Advanced Study (IAS) im europäischen Raum. Im Gespräch erläutern die Rektorinnen der drei Institute Wissenschaftskolleg zu Berlin, New Europe College (Bukarest) und Centre for Advanced Study (Sofia) die aktuellen Herausforderungen sowie die Rolle der IAS in der akademischen Landschaft.
Ein Institute for Advanced Study (IAS) bietet ausgewählten Hochschuldozierenden (sogenannten Fellows) die Möglichkeit, ein bis zwei Freisemester an einem renommierten Institut im Ausland zu verbringen. Ein solcher Aufenthalt bietet einen zeitlich beschränkten Ausbruch aus dem universitären Alltag. Er stimuliert die Kreativität und fördert den internationalen und transdisziplinären Austausch mit den wissenschaftlich Besten. Die Fellows – auch solche aus der Schweiz – werden nach dem Kriterium der wissenschaftlichen Exzellenz durch ein international zusammengesetztes Gremium von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern ausgewählt. Das Wissenschaftskolleg zu Berlin (WIKO), das New Europe College (NEC) in Bukarest (Rumänien) und das Centre for Advanced Study (CAS) in Sofia (Bulgarien) gehören zu den vom SBFI unterstützten IAS.
Welche Schwerpunkte verfolgen Ihre Institutionen im akademischen Jahr 2022/2023?
Barbara Stollberg-Rilinger (WIKO): Unser Institut hat keine eigene Forschungsagenda, sondern stellt den Rahmen zur Verfügung, damit die Fellows ihre individuellen Projekte optimal verfolgen können. Es gibt aber gewisse thematische Cluster. In diesem Jahr sind das zum Beispiel «Wahrheit / Wissen / Fälschung» oder «Migration / Egalität / Diversität». Ein Schwerpunkt unserer eigenen institutionellen Arbeit liegt schon seit längerem auf der Verteidigung der Wissenschaftsfreiheit, die in immer mehr Ländern zunehmend bedroht ist. Dazu zählt auch die jüngste Idee, ein Partnerinstitut in der Ukraine ins Leben zu rufen.
Valentina Sandu-Dediu (NEC): Neben seinem Kernprogramm, der Vergabe von Postdoc-Stipendien auf der Grundlage von Exzellenz und im Geiste der «Blue Sky Research», erforscht das NEC weitere Themenbereiche wie die Integration digitaler Technologien in die geisteswissenschaftliche Forschung, neue Herausforderungen für die Demokratie und das soziale Wohlergehen sowie den Beitrag der Künste zur heutigen Gesellschaft.
Diana Mishkova (CAS): Für dieses Jahr sehen wir drei Prioritäten: Erstens die Verlängerung des Stipendienprogramms für junge bulgarische (Diaspora-)Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler. Zweitens soll die Stellung des Instituts als Exzellenzzentrum für vielseitige Forschung im Bereich der Regionalstudien mit Schwerpunkt auf Mittel-, Ost- und Südosteuropa gestärkt werden. Drittens soll nach den Einschränkungen aufgrund der Covid-19-Pandemie die persönliche Kommunikation zwischen Forschenden und der Zivilgesellschaft durch öffentliche Vortragsreihen und offene Veranstaltungen vor Ort wieder aufgenommen werden.
Welche Rolle kann ein IAS heute in einem akademischen Umfeld spielen, das sowieso von internationalen Kooperationen und Interdisziplinarität geprägt ist? Welchen Mehrwert ziehen Forschende daraus, ein Semester oder ein Jahr lang dem üblichen akademischen Betrieb fernzubleiben?
Barbara Stollberg-Rilinger: Tatsächlich reklamiert heute fast jede akademische Institution Internationalität und Interdisziplinarität für sich. Gerade in Deutschland schiessen kleinere, universitätsbasierte Fellowship-Programme wie Pilze aus dem Boden. Das WIKO verfügt aber nach wie vor über einige Alleinstellungsmerkmale. Erstens die institutionelle Unabhängigkeit von den Universitäten und der Charakter eines «nationalen» IAS. Zweitens die Breite der vertretenen Disziplinen und Wissenschaftskulturen: Wir laden Fellows aus den Natur-, Sozial- und Geisteswissenschaften ein, dazu jedes Jahr auch einige Künstlerinnen und Künstler. Daraus ergeben sich immer wieder überraschende Anregungen. Drittens das gemeinsame Alltagsleben der Fellows auf unserem Campus, die für die Dauer eines Jahres miteinander essen, diskutieren, und – je nach Belieben – die Freizeit verbringen. Und schliesslich das besonders breite Angebot und die Qualität der Dienstleistungen für die Fellows und ihre Familien. Dadurch können sich die Eingeladenen ganz auf ihre frei gewählten Vorhaben konzentrieren und anspruchsvolle Arbeiten angehen, für die in der Hektik des akademischen Alltags oft keine Zeit und Ruhe bleibt. Angesichts der zunehmenden Belastung durch Publikationsdruck, Administration, Lehre und Fundraising ist dieser Freiraum wertvoller denn je.
Aktuelle politische Entwicklungen in Europa und weltweit verdeutlichen, dass die Kultur der «offenen Gesellschaft», in der sachlicher Diskurs und fundierte Kritik möglich sind, keine Selbstverständlichkeit ist. Können und dürfen die IAS als unabhängige Institutionen in diesem Zusammenhang eine Rolle spielen?
Diana Mishkova: Die aktuellen politischen Entwicklungen in Europa unterstreichen in der Tat die Rolle, die die IAS spielen sollten. In Ländern wie Bulgarien und Rumänien war die Achtung des demokratischen Diskurses und von fundierter Kritik noch nie selbstverständlich. Die wichtigste gesellschaftliche Rolle, die das CAS für sich selbst sieht, ist die Förderung von Werten der «offenen Gesellschaft» durch seine akademischen Instrumente sowie die Förderung der Fähigkeit zu kritischem Denken und zu unkonventionellen Ansätzen für politische und soziale Herausforderungen.
Valentina Sandu-Dediu: Das im rumänischen Kontext einzigartige Format des NEC verleiht ihm eine gewisse Unparteilichkeit und die Möglichkeit, weiterhin Spitzenforschung zu betreiben. Unter den gegenwärtigen politischen Bedingungen würde jede staatliche Einmischung in die Verwaltung der Institution eine drastische Veränderung unserer Arbeitsweise bedeuten, da sie die Entscheidungsautonomie beeinträchtigen würde. Als unabhängige Institution muss das NEC weiterhin als akademische und neutrale Plattform für Debatten aller Art dienen, wo Höflichkeit und Freiheit des Dialogs gewahrt werden.
WIKO, NEC und CAS
Das Wissenschaftskolleg zu Berlin wurde 1981 als unabhängiges, interdisziplinäres Forschungsinstitut nach dem Modell des Institute for Advanced Study in Princeton gegründet. Es bietet jährlich rund 45 Fellows aus der ganzen Welt die Möglichkeit, einen bis zu zehnmonatigen Aufenthalt zu absolvieren und dabei ein Projekt ihrer Wahl zu verfolgen. Die meisten Fellows stammen aus den Geistes-, Sozial- und Naturwissenschaften; sie treffen hier aber auch auf Leute, die dem akademischen Betrieb eher fernstehen: Komponistinnen, Schriftsteller, Journalistinnen, Regisseure oder Diplomatinnen.
Das New Europe College ist ein rumänisches IAS, das 1994 von Professor Andrei Pleşu gegründet wurde. Es bietet jährlich rund 40 Fellows aus den Geistes- und Sozialwissenschaften für ihre Forschungsvorhaben einen institutionellen Rahmen mit starken internationalen Verbindungen, der ein anregendes Umfeld für interdisziplinären Dialog und kritische Debatten bietet.
Das Centre for Advanced Study Sofia wurde als jüngstes der drei Institute 2000 gegründet. Es empfängt pro Jahr rund 20 Fellows aus den Geistes- und Sozialwissenschaften. Neben den Individualstipendien für herausragende Forschende bietet es auch einen Rahmen für Kooperationsprojekte, die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus verschiedenen Bereichen und Regionen zusammenbringen.
Krisen wie die Covid-19-Pandemie verlangen von den IAS Kreativität und Flexibilität, um ihre Schlüsselaktivitäten aufrechtzuerhalten und ihre Formate weiterzuentwickeln. Welche anderen längerfristigen Herausforderungen sehen Sie für die Zukunft des WIKO?
Barbara Stollberg-Rilinger: Obschon die Wissenschaftsfreiheit in Deutschland grundgesetzlich garantiert ist, gibt es doch auch bei uns schleichende Tendenzen, die sie von aussen und von innen einengen. Zum einen seitens der Politik, die die Finanzierung zunehmend von unmittelbaren Impact- und Transfererwartungen abhängig macht und bestimmte aktuelle Forschungsagenden setzt, so dass wenigerRaum dafür bleibt, Forschungsthemen frei zu wählen. Zum anderen sehe ich eine schleichende Bedrohung der Wissenschaftsfreiheit dadurch, dass der Raum des Sagbaren eingeschränkt wird, und zwar aus verschiedenen politischen Richtungen.
Das NEC und CAS sind etwas jünger als das WIKO, blicken jedoch mittlerweile auf eine fast dreissigjährige bzw. über zwanzigjährige Geschichte zurück. Welches waren aus ihrer Sicht wichtige Meilensteine in den letzten Jahren?
Valentina Sandu-Dediu: Eine der Errungenschaften der letzten Jahre ist, dass wir in der Lage waren, das NEC-Kernprogramm beizubehalten. Gleichzeitig haben wir uns an neue Herausforderungen angepasst, indem wir andere Formen der akademischen Kommunikation initiiert haben: Wir haben Winter- oder Sommerschulen in Zusammenarbeit mit dem WIKO und der Universität St. Gallen organisiert; wir haben neue Programme ins Leben gerufen, die für Gesellschaft und Demokratie, für Digitalisierung und neue Technologien offen sind.
Diana Mishkova: In institutioneller Hinsicht war es die offizielle Anerkennung, die der bulgarische Ministerrat dem CAS im Jahr 2018 als «einzige Nichtregierungsorganisation im Land mit nachgewiesener, international anerkannter Kapazität und langjähriger erfolgreicher Praxis bei der Verwaltung von Stipendienprogrammen für junge Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus Bulgarien und dem Ausland» erteilte. Seitdem erhält das CAS staatliche Mittel für sein Stipendienprogramm, jedoch unabhängig von staatlichen Eingriffen in die Forschungsfreiheit. Was die internationale Zusammenarbeit betrifft, so wurde das CAS-Netzwerk durch die Aufnahme zweier renommierter amerikanischer Forschungsförderungseinrichtungen erweitert: der Getty Foundation und des American Council of Learned Societies.
Welche Bedeutung haben die Kontakte und Netzwerke unter den drei IAS? Wo können sie Synergien nutzen?
Barbara Stollberg-Rilinger: Für das WIKO war der Aufbau akademischer Kontakte in den ost- und mittelosteuropäischen Raum schon vor der Wende 1989/90 ein zentrales Anliegen. CAS und NEC sind die Kristallisationskerne dieses Netzwerks in den postsowjetischen Raum. Für alle drei Institute ist die Kooperation eine Win-win Situation. Das WIKO profitiert vom Einblick in andersartige akademische Systeme und historische Erfahrungen. Die Dezentrierung der Sicht auf Forschungsfragen, Probleme und Herausforderungen ist für uns von besonderem Wert; sie hilft uns, die eigenen kulturellen Selbstverständlichkeiten zu durchschauen und kritisch zu betrachten. Fragen der gesellschaftlichen Diversität beispielsweise stellen sich in Osteuropa ganz anders als in den USA oder Mitteleuropa.
Valentina Sandu-Dediu: Die WIKO-Leitung unterstützt kontinuierlich unsere akademischen Strategien, den Austausch von Stipendiaten und die Aufrechterhaltung der Forschungsexzellenz. Die Zusammenarbeit mit dem CAS hat sich in letzter Zeit intensiviert, nachdem wir positive Erfahrungen mit dem gemeinsam entwickelten Programm «How to Teach Europe» gemacht haben. Derzeit arbeiten wir im Rahmen des Stipendienprogramms «Relevance of the Humanities in the Digital Age» zusammen und organisieren gemeinsam Treffen und Workshops mit Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern aus Sofia und Bukarest.
Diana Mishkova: In der Tat ist es schwer, Bereiche zu nennen, in denen diese drei Institutionen keine Synergien schaffen und nutzen. Während das WIKO nicht nur als institutionelles Vorbild dient, sondern auch als renommierte Plattform, die die Kommunikation zwischen Forschenden über die (immer noch bestehende) Kluft zwischen Ost und West und mit der deutschen Wissenschaft insgesamt sicherstellt, verstärken CAS und NEC die akademische Zusammenarbeit und den Austausch innerhalb der breiteren Region Südosteuropa durch eine Reihe gemeinsamer Projekte und Anstrengungen zur Bewältigung gemeinsamer Herausforderungen. Diese Zusammenarbeit dient als Anreiz zur Schärfung des Profils jeder Institution und zur Entwicklung komplementärer Fähigkeiten und Fachkenntnisse. Gleichzeitig werden europäische und regionale wissenschaftliche Netzwerke gefördert.