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«Es wäre ein grosser Fehler, Instrumente zu verbieten, die künstliche Intelligenz einsetzen»

Seit Februar 2023 ist Luciana Vaccaro Präsidentin von swissuniversities, der Rektorenkonferenz der schweizerischen Hochschulen. Im Interview spricht sie über aktuelle Herausforderungen für den Hochschulplatz Schweiz – beispielsweise die Nicht-Assoziierung an Horizon Europe, ChatGPT oder die Chancengerechtigkeit.

22.08.2023
Autor/in: Laura Stirnimann

An welchen Dossiers arbeiten Sie zurzeit?

Momentan arbeiten wir an mehreren hochschulpolitisch wichtigen Dossiers wie der Nicht-Assoziierung an die EU-Rahmenprogramme für Forschung und Innovation oder der Vernehmlassung zur Botschaft zur Förderung von Bildung, Forschung und Innovation (BFI-Botschaft) 2025–2028. Zudem stecken wir mitten in den Verhandlungen mit einem Verlag über Open Access und befassen uns mit aktuellen Themen wie der Rolle der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in der Politik, dem Lehrermangel oder der Titelbezeichnung in der Berufsbildung.

Wo sehen Sie aktuell die grössten Herausforderungen für den Hochschulplatz Schweiz?

Wir spüren den steigenden Druck auf die öffentlichen Finanzen. Damit wir die Lehr- und Forschungsqualität garantieren können, setzen wir uns dafür ein, dass die Bundesbeiträge auf die wachsenden Anforderungen von Politik und Gesellschaft sowie die steigenden Studierendenzahlen abgestimmt sind. Denn hier besteht die konkrete Gefahr eines Leistungsabfalls.

Auf internationaler Ebene bleiben die Beziehungen mit der EU das zentrale Thema. Zwei Jahre nach Abbruch der Verhandlungen zum Rahmenabkommen mit der EU ziehen die Hochschulen eine negative Bilanz: Der Schweizer Bildungs-, Forschungs- und Innovationsplatz verliert Beiträge in Millionenhöhe und – was längerfristig schwerer wiegt – hat Mühe, die Netzwerke mit seinen europäischen Partnern aufrechtzuerhalten. Aus Sicht von swissuniversities muss rasch eine politische Lösung gefunden werden, um die internationale Spitzenposition der Schweizer Hochschulen zu sichern.

Der Einsatz künstlicher Intelligenz wird heute heiss diskutiert, insbesondere im Bereich der Lehre und Forschung an den Hochschulen. Wie geht swissuniversities mit dieser Herausforderung um?

Die Hochschulen stehen vor grossen Herausforderungen, insbesondere was die Lehre und die Beurteilungsmethoden anbelangt. Es wäre ein grosser Fehler, Instrumente, die künstliche Intelligenz einsetzen, zu verbieten oder zu ignorieren – beispielweise ChatGPT. Wir müssen sie verstehen und nutzen, wo dies sinnvoll ist. Die Hochschulen können einen entscheidenden Beitrag zur Vorhersage, Analyse und Bewältigung der durch die Digitalisierung angestossenen Veränderungen leisten.

swissuniversities koordiniert Programme zu Open Research Data und digitalen Kompetenzen, beispielsweise das Projekt «Digital Literacy in University Contexts». Mit diesem verfolgen die Hochschulen das Ziel, auf künstlicher Intelligenz basierende Technologien effizient in die Lehre einzubinden.

Bild von Luciana Vaccaro

Luciana Vaccaro hat einen Master in Physik an der Universität Neapel Federico II und ein Doktorat in Mikrotechnik an der ETH Lausanne abgeschlossen. In ihren Forschungen befasst sie sich mit Optik und Elektromagnetismus. Seit 2013 ist sie Rektorin der Fachhochschule Westschweiz HES-SO. Im Februar 2023 übernahm Luciana Vaccaro die Nachfolge von Yves Flückiger als Präsidentin von swissuniversities, der Dachorganisation der Schweizer Hochschulen. Bild: Guillaume Perret

Die Schweiz ist derzeit nicht assoziiert am europäischen Rahmenprogramm für Forschung und Innovation (Horizon Europe) sowie an Erasmus+. Wie reagieren Ihre europäischen Kolleginnen und Kollegen darauf?

Die europäischen Kolleginnen und Kollegen unterstützen unsere Forderung nach einer Assoziierung der Schweiz. Sie bedauern, dass wir von diesen angesehenen Forschungs- und Innovationsprogrammen sowie vom Aufbau eines digitalen europäischen Bildungsraums ausgeschlossen sind. Die Unterstützung ist also vorhanden, aber der institutionelle und politische Rahmen für die Zusammenarbeit zwischen schweizerischen und europäischen Partnern gestaltet sich kompliziert. Wir halten unsere Beziehungen so gut wie möglich aufrecht, insbesondere über die Hochschulverbünde im Rahmen der Initiative «Europäische Hochschulen».

«Persönlich plädiere ich dafür, Diversität in einem breiteren Sinne zu verstehen und nicht ausschliesslich auf das Geschlecht zu beschränken.»

Luciana Vaccaro

Wie beurteilen Sie die Entwicklung der Chancengerechtigkeit und der Diversität an den Schweizer Hochschulen?

In den vergangenen Jahren haben wir festgestellt, dass alle Hochschulen Anstrengungen zugunsten der Chancengerechtigkeit, Diversität und Inklusion unternommen haben. In unserer strategischen Planung «Gesamtschweizerische Hochschulpolitische Koordination 2025–2028» war dies zudem als strategisches Ziel verankert.

Persönlich plädiere ich dafür, Diversität in einem breiteren Sinne zu verstehen und nicht ausschliesslich auf das Geschlecht zu beschränken. Wir müssen uns vertieft damit auseinandersetzen, wie wir verhindern können, dass Handicaps, einschliesslich Lernschwierigkeiten oder chronische Krankheiten, einem Hochschulabschluss im Weg stehen. Wo immer dies möglich ist, sollten wir Begleitverfahren einrichten.

Und wie sieht es mit der Nachwuchsförderung aus?     

Die Nachwuchsförderung muss inklusiv und gleichberechtigt ausgerichtet sein. Wir müssen dafür sorgen, dass akademische Laufbahnen von Frauen gefördert und Engpässe, die ihre Karriere behindern, beseitigt werden. Hochschulabgängerinnen und -abgänger müssen weiterhin die Bedürfnisse der Wirtschaft, der Wissenschaft und der Gesellschaft abdecken können.

«Die Nachwuchsförderung muss inklusiv und gleichberechtigt ausgerichtet sein.»

Luciana Vaccaro

Welche Ziele möchten Sie während Ihrer Amtszeit als Präsidentin erreichen?

Einige habe ich bereits erwähnt, beispielsweise die Weiterführung der Bemühungen im Hinblick auf eine Teilnahme der Schweiz an den EU-Forschungs- und Bildungsprogrammen. Ein anderes Handlungsfeld besteht darin, ausreichende finanzielle Mittel für alle Hochschultypen zu erhalten, damit diese ihre Forschungs- und Lehraufträge erfüllen können. Schliesslich ist es mir auch ein Anliegen, die Bereitstellung von wissenschaftlichen Kenntnissen zu fördern, um die Herausforderungen unserer Zeit zu bewältigen.


Kontakt
Simone Keller, SBFI Stv. Leiterin Ressort Kommunikation simone.keller@sbfi.admin.ch +41 58 485 67 74
Autor/in
Laura Stirnimann

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