Auf- und Ausbau von Osteuropa-Expertise
Im Rahmen der internationalen Bildungszusammenarbeit unterstützt das SBFI ausgewählte Kooperationen von Schweizer Bildungsinstitutionen, um den BFI-Standort Schweiz bestmöglich zu vernetzen. Schweizer Universitäten stärken durch ihre Zusammenarbeit mit Partnern in Osteuropa und im Schwarzmeerraum den Forschungsstandort Schweiz.
Im Rahmen seiner Förderung der internationalen Bildungszusammenarbeit unterstützt das SBFI ausgewählte Kooperationen von Schweizer Hochschulen mit exzellenten ausländischen Partnern und Kompetenzzentren. Im Vordergrund stehen der Auf- und Ausbau von Expertise und wissenschaftlichen Netzwerken, der Wissenstransfer und Austausch sowie die Stimulierung von innovativen und interdisziplinären Ansätzen. Solche Kooperationen haben besonders in Bereichen einen grossen Mehrwert, in denen wissenschaftliche Potenziale bisher noch unzureichend genutzt werden. Dies gilt unter anderem für mehrere Kooperationen mit Fokus auf Osteuropa und auf den Schwarzmeerraum, die seit mehreren Jahren einen Schwerpunkt bilden. Im Folgenden werden drei Initiativen vorgestellt, die gemeinsam zu einem nachhaltigen Aufbau von wissenschaftlicher Exzellenz in diesem Bereich beitragen.
Center for Governance and Culture in Europe (GCE), Universität St. Gallen
Die Förderung der wissenschaftlichen Zusammenarbeit zwischen der Schweiz und den Staaten der Schwarzmeerregion in den Geistes- und Sozialwissenschaften steht im Zentrum des Programmes des GCE. Dabei soll die Osteuropakompetenz in der Schweiz vertieft werden. Noch während des Kalten Krieges dominierte in der Schweiz der Fokus auf Russland; demgegenüber wurden wichtige wissenschaftliche Entwicklungen, die von anderen Ländern des «Ostblocks» ausgingen, vernachlässigt. Die Bearbeitung von aktuellen Forschungsfragen in einem breiteren geografischen Kontext verspricht Erkenntnisgewinne, die auch für Westeuropa und die Schweiz relevant sind.
Ebenso soll die Vernetzung zwischen den Schweizer Akteuren und den Partnerländern verbessert werden. Gemeinsame, länderübergreifende und interdisziplinäre Forschungsprojekte, Programme und Konferenzen sind zu diesem Zweck wichtige Gefässe. Das GCE lanciert solche Forschungsprojekte in den Bereichen Politikwissenschaft, Ökonomie, Kulturgeschichte und Soziologie und führt sie durch. Im Fokus stehen innovative Forschungsfragen, die in der Regel mit einem differenzierenden transnationalen oder vergleichenden Ansatz untersucht werden. Bei komplexen Themen stossen herkömmliche Analyseansätze mit einem starken Fokus auf nationalstaatliche Kategorien rasch an ihre Grenzen. Beispiele, die sich einer ausschliesslich nationalen Analyse entziehen, sind etwa der Umgang mit den Folgen der Covid-19-Pandemie, die Wirkung der Digitalisierung auf zivilgesellschaftliche Prozesse oder aktuelle Migrations- und Fluchtbewegungen aufgrund von Konflikten. Die historisch, kulturell und ökonomisch stark verflochtenen Gesellschaften des Schwarzmeerraums sind für solche Untersuchungen ein äusserst fruchtbares Forschungsfeld.
Weiter sollen durch die Kooperationen auch die wissenschaftlichen Kapazitäten in den Partnerinstitutionen gefördert werden: Im Schwarzmeerraum sind weiterhin Reformen nötig, damit die Partnerinstitute ihre internationale Wettbewerbsfähigkeit ausbauen können. So kooperiert das GCE unter anderem eng mit den Institutes for Advanced Study in Südosteuropa, führenden Instituten im Schwarzmeerraum und weiteren international renommierten Partnern wie dem Harvard Ukrainian Research Institute. Einen besonderen Stellenwert hat die Förderung von Nachwuchswissenschaftlerinnen und -wissenschaftlern, die unter anderem im Rahmen von internationalen Treffen die Gelegenheit erhalten, ihre Arbeiten einem kritischen Fachpublikum vorzustellen und sich untereinander zu vernetzen. Dies geschah zum Beispiel bei der GCE-Jahreskonferenz im September 2022 in Tbilisi, Georgien, wo unter dem Titel «Migration, Mobility and Displacement in the Black Sea Region» neue Forschungsergebnisse und Projekte vorgestellt wurden, die für das Verständnis der aktuellen Entwicklungen in der Region relevant sind.
Center for Eastern European Studies (CEES), Universität Zürich
Auch das 2017 gegründete CEES verfolgt das Ziel, Antworten auf den gestiegenen Bedarf nach Osteuropa-Expertise zu geben. Sein geographischer Schwerpunkt liegt dabei primär auf dem postsowjetischen Raum und insbesondere auf Russland, dem Kaukasus und Zentralasien. Als zentrale Anlauf- und Informationsstelle stellt das CEES Orientierungswissen in Form von Publikationen, Tagungen und Beratung für Entscheidungsträgerinnen und -träger in Politik und Wirtschaft sowie für die interessierte Öffentlichkeit zur Verfügung. Das CEES betreibt zudem eine Koordinationsplattform für verschiedene nationale und internationale Osteuropa-Aktivitäten und führt ebenfalls wissenschaftliche Kooperationsprojekte mit Partnerinnen und Partnern im In- und Ausland durch. So ermöglicht das 2019 gegründete Fellowship-Programm jungen Akademikerinnen und Akademikern von osteuropäischen Hochschulen, ein Austauschsemester an der Universität Zürich zu absolvieren und sich in individuellen Forschungsprojekten mit Forschenden des CEES auszutauschen.
Die Ausbildung künftiger Osteuropaexpertinnen und -experten für Wissenschaft und Praxis ist ein zentrales Anliegen des CEES. Es bereichert das bestehende Lehrangebot der Universität Zürich um Veranstaltungen, die sich spezifischen gegenwartsbezogenen Problemen Osteuropas widmen. Als Thinktank deckt es das gesamte Spektrum von öffentlichen Podiumsdiskussionen über wissenschaftliche Workshops bis hin zu grossen internationalen Tagungen ab. Strategische Kooperationen mit renommierten Forschungsinstitutionen, darunter das Center for Security Studies der ETH Zürich oder die Forschungsstelle Osteuropa an der Universität Bremen, gehören ebenso zur Aufgabe des CEES.
Im Bereich der Forschung adressiert das CEES fünf Kernthemen zu politisch und gesellschaftlich relevanten Entwicklungen in Osteuropa:
- Politische Konflikte und Gewaltkonflikte, wie sie sich etwa im Südkaukasus (Abchasien, Südossetien, Berg-Karabach), im Nordkaukasus, in Teilen Zentralasiens und seit neustem auch in der Ukraine manifestieren.
- Der Themenbereich «Desinformation», also die gezielte Verbreitung von falscher oder irreführender Information. Dabei wird untersucht, welche Rolle Desinformation im angespannten Verhältnis zwischen Russland und dem Westen spielt und mit welchen Narrativen und rhetorischen Strategien gearbeitet wird.
- Die gesellschaftlichen Grundlagen politischer Macht. Mit Blick auf die autoritär regierten Staaten des postsowjetischen Raumes interessieren dabei insbesondere Fragen nach dem Charakter, der Stabilität und der Wandelbarkeit politischer Systeme.
- Die Migration einschliesslich der Zirkulation von Gütern und Wissen, mit Schwerpunkt Zentralasien.
- Die Geopolitik und die darin wirkenden integrativen und desintegrativen Kräfte im zentraleurasischen Raum seit dem Zerfall der Sowjetunion.
Ukrainian Research in Switzerland (URIS), Universität Basel
Das Projekt URIS ist geographisch fokussiert: Im Nachgang an den Euromaidan in der Ukraine und die völkerrechtswidrige Annexion der Krim durch Russland 2014 wurde offensichtlich, dass in der Schweiz eine Lücke hinsichtlich spezifischer Expertise und Verständnis von Geschichte, Gesellschaft, Politik und Kultur der Ukraine besteht. URIS wurde daher 2017 mit den Zielen lanciert, einen nachhaltigen Beitrag zur Vertiefung der Ukraine-Expertise in der Schweiz zu leisten, den wissenschaftlichen Nachwuchs in diesem Themenfeld zu fördern und zur internationalen Vernetzung der in der Schweiz stattfindenden universitären Ukraine-Forschung beizutragen.
Kern des Projekts ist ein internationales Fellowship-Programm für promovierte Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler. Pro Jahr absolvieren zwei international renommierte Fellows (aus der Ukraine und anderen Ländern) einen jeweils sechsmonatigen Forschungsaufenthalt an der Universität Basel und geben ihr Wissen in einer Lehrveranstaltung an Studierende weiter. Daneben vernetzen sie sich mit Schweizer Forschenden, nehmen an öffentlichen Veranstaltungen teil und stehen Schweizer Medien als Expertinnen und Experten zur Verfügung.
Wertvoller Schweizer Beitrag stärkt BFI-Politik
Die Initiativen der drei Universitäten St. Gallen, Zürich und Basel im Bereich der Osteuropawissenschaften verfolgen ähnliche Ziele, sind jedoch hinsichtlich ihrer geographischen und thematischen Schwerpunkte komplementär ausgestaltet und suchen regelmässig die Zusammenarbeit, z.B. bei gemeinsamen Workshops und Nachwuchstagungen. Die Projekte bezeichnen den Kern eines sich weiterentwickelnden Netzwerkes von Experten, Studierenden und interessierten Personen aus Politik, Wirtschaft und Zivilgesellschaft. Der gezielte Aufbau von Schweizer Expertise trägt nicht nur langfristig zur Stärkung des BFI-Standorts bei, sondern erweist sich gerade im Zusammenhang mit den aktuellen Entwicklungen im Osten Europas als besonders wertvoll.