Pascal Gygax, der Psycholinguist, der die Gesellschaft durch Sprache «demaskulinisieren» möchte
Seit zwanzig Jahren untersucht der Psycholinguist Pascal Gygax die Zusammenhänge zwischen Sprache und Repräsentationen von Geschlecht. Seine Arbeiten zeigen, in welchem Masse die grammatikalisch männlich geprägte Sprache bewusst oder unbewusst unsere Wahrnehmung der Welt beeinflusst. Im November 2024 hat er dafür den Schweizer Wissenschaftspreis Marcel Benoist erhalten.
«Die Ärzte bitten ihre Studenten, sich die Hände zu waschen.» Dieser Satz vermittelt uns zunächst einmal ein Bild von Männern in weissen Kitteln, die von ihren männlichen Assistenten ein gewisses Mass an Hygiene verlangen. Doch die Formulierung wäre dieselbe, auch wenn die fragliche Gruppe von Ärzten eine oder mehrere Frauen umfasste und sich nur ein einzelner Student in einer ansonsten homogenen Gruppe von Studentinnen befände, zumindest im Französischen. Laut Pascal Gygax lässt sich diese Interpretation des sogenannten «generischen» Maskulinums zur Beschreibung aller Geschlechtsidentitäten durch die Funktionsweise unseres Gehirns erklären; so haben es auch mehrere neurowissenschaftliche Studien gezeigt. Die stark männlich geprägte französische Sprache (Gleiches gilt für andere Sprachen wie beispielsweise dem Deutschen) trägt so dazu bei, dass Positionen verfestigen, die es Männern ermöglicht, die Welt – einschliesslich der Frauen – zu beherrschen. Oft sind wir uns dessen gar nicht bewusst.
«Sprache hat Einfluss darauf, wie wir die Welt wahrnehmen.»
Gygax’ Forschung zeigt, «dass wir beim Lesen eines männlichen Begriffs eher an Männer denken, das heisst im ‹konkreten› Sinn des Wortes (maskulin = Mann), auch wenn sich der männliche Begriff theoretisch als ‹generisch› interpretieren lässt. Dies gilt auch dann, wenn der Begriff zur Beschreibung einer Gruppe – wie im obigen Beispiel mit den Ärzten – verwendet wird, in der sich auch Frauen befinden können.» Aktuelle Studien zur Messung der elektrischen Aktivität im Gehirn belegen: Um sich in einer Gruppe Ärzte eine Frau vorzustellen, muss das Gehirn mehr Energie aufwenden, als wenn es «Ärzte» lediglich als eine Gruppe von Männern interpretiert.
«Unser Gehirn ist gewissermassen so eingestellt, dass es sich Männer vorstellt, wenn es ‹Ärzte› liest.»
Wenn Sprache den Mann in den Mittelpunkt stellt
Laut Pascal Gygax lässt sich die Idee, dass die männliche Form einen neutralen Wert annehmen könnte, nicht mit der Funktionsweise unseres Gehirns vereinbaren. Er war auch daran beteiligt aufzuzeigen, dass dieses «Schaltmuster» im Gehirn bereits in frühester Kindheit geprägt wird, nämlich im Alter zwischen drei und fünf Jahren. Während der ersten Schuljahre verfestigt es sich dann: «Die Regel ‹maskulin = Mann› wird formell viel früher erklärt als die Tatsache, dass das Maskulinum auch eine generische Form annehmen kann», so der Wissenschaftler.
Hinzu kommen weitere sprachliche Formulierungen, welche die Dominanz des Männlichen gegenüber dem Weiblichen verstärken. Bei einer Aufzählung beispielsweise wird der Mann häufig zuerst genannt, wie etwa in der Formulierung «Mann und Frau» oder «Adam und Eva». Im Französischen wird einer Gruppe aus Männern und Frauen zudem im Verb eine männliche Partizipform zugeordnet: «les étudiantes et étudiants sont formés à la médecine» (die Studentinnen und Studenten werden in Medizin ausgebildet). Eine solche androzentrische Sprache, die den Mann in den Mittelpunkt stellt, prägt unsere Sicht auf die Gesellschaft. Das hat vielfältige Folgen.
«Diese androzentrische Sprache, die den Mann in den Mittelpunkt oder über alles andere stellt, prägt unsere Sicht auf die Gesellschaft.»
Erstens führt dieser Sprachgebrauch dazu, dass ein ganzer Teil der Gesellschaft unsichtbar wird: nicht nur Frauen, sondern alle Personen, die sich nicht mit dem Wort Mann identifizieren. Zweitens, so der Forscher, hat die androzentrische Sprache vor allem grossen Einfluss darauf, wie Kinder sich ihre zukünftigen Berufswahlmöglichkeiten vorstellen. Dies gilt umso mehr, als ein weiteres, ebenso schwerwiegendes Problem hinzukommt, nämlich das der Geschlechterstereotypen. Einige Berufe werden von vornherein eher mit Frauen, andere eher mit Männern in Verbindung gebracht. Beispiele sind Krankenschwester für Frauen und Chirurg für Männer.
Inklusive Sprache als Schlüssel für mehr Gleichberechtigung
Pascal Gygax untersucht auch weitere Sprachen und arbeitet mit Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern in zahlreichen Ländern zusammen. Die Beobachtung, dass unsere heutige Gesellschaft im 21. Jahrhundert immer noch sehr patriarchalisch geprägt ist, bringt Gygax schliesslich zu folgendem Schluss: «Es geht jetzt darum, die Gesellschaft zu demaskulinisieren!» Eines der Instrumente, dessen Nutzung er in diesem Zusammenhang befürwortet, ist die inklusive (oder geschlechtergerechte) Sprache, die derzeit zu heftigen Debatten führt. Das Ziel der inklusiven Sprache besteht «vor allem darin, ein besseres Gleichgewicht zwischen der Repräsentation der Geschlechter im Sprachgebrauch zu finden», fasst Pascal Gygax zusammen. «Die inklusive Sprache geht dabei weit über die viel diskutierten neuen Schreibweisen hinaus, auf die sie häufig reduziert wird.»
Sprache lebt und entwickelt sich weiter
Pascal Gygax hat sich auf die Fahne geschrieben, seine Erkenntnisse einem breiten Publikum bekannt zu machen. Dabei geht es ihm vor allem darum, sein Forschungsgebiet für die Allgemeinheit zugänglich zu machen. Gemeinsam mit der Eidgenössischen Technischen Hochschule Lausanne (EPFL) kreiert er pädagogische Videos, er nimmt an Podiumsdiskussionen teil, tritt in Radio- und Fernsehsendungen auf und schreibt Medienbeiträge.
Seit 20 Jahren untersucht Pascal Gygax die Zusammenhänge zwischen Sprache und Repräsentationen von Geschlecht.
Seine empirische Forschung erfuhr nicht immer Wertschätzung. Mit dem Preisgeld für den Schweizer Wissenschaftspreis Marcel Benoist will sich Pascal Gygax endlich einen lang gehegten Wunsch erfüllen und ein akademisches Institut gründen, das sich der Erforschung der Auswirkungen von Sprache widmet. Denn die Gesellschaft steht nicht still. Im Gegenteil: «In der französischen Sprache tauchen jetzt Wörter wie ‹lecteurice› auf, um non-binäre Personen einzuschliessen», sagt Pascal Gygax. «Die französische Sprache ist wie auch andere Sprachen nicht starr, sie muss atmen. Sie entwickelt sich. Sie lebt.»
Pascal Gygax, geboren 1975 in Biel, studierte in England Psychologie und Psycholinguistik. 2003 kehrte er in die Schweiz zurück und setzte seine Forschung an der Universität Freiburg fort. Sein Hauptforschungsgebiet ist die Auswirkung von Sprache auf unsere Wahrnehmung der Welt. Im November 2024 erhielt er für seine Forschung den Schweizer Wissenschaftspreis Marcel Benoist, der häufig als «Schweizer Nobelpreis» angesehen wird.