«Die Kommerzialisierung ist auch eine Chance für den Raumfahrtsektor in der Schweiz»
Renato Krpoun leitet die Abteilung Raumfahrt im SBFI und ist seit 1. Juli 2023 Vorsitzender des Rates der Europäischen Weltraumorganisation (ESA) auf Delegiertenebene. Im Gespräch erklärt Renato Krpoun die wichtigsten Eckpunkte der bundesrätlichen Weltraumpolitik und gibt einen Einblick in aktuelle Entwicklungen in der Raumfahrt.
Der Bundesrat hat im April seine «Weltraumpolitik 2023» verabschiedet. Was wird sich für die Schweizer Raumfahrt ändern?
Unsere Evaluation der Weltraumpolitik von 2008 hat gezeigt, dass kein eigentlicher Richtungswechsel notwendig ist. Die Schweiz hat in der Raumfahrt viele Erfolgsgeschichten vorzuweisen, auf denen wir aufbauen können. Gleichzeitig hat der Bundesrat sichergestellt, dass die Schweiz den Anschluss nicht verpasst, denn aktuell ist, global gesehen, vieles im Wandel.
Worin zeigt sich dieser Wandel?
Beispielsweise bei der Verteilung der Zuständigkeiten zwischen dem öffentlichen und dem privaten Sektor. Der öffentliche Sektor verlangt bei Beschaffungen, dass der private Sektor mehr Risiken eingeht und einen Teil der Rechenschaftspflicht übernimmt, im Gegenzug möchte er mehr unternehmerischen Spielraum gewähren. Dies ermöglicht es den Unternehmen, von den Regierungen benötigte Dienstleistungen privaten Akteuren, aber vor allem auch ausländischen Regierungen anzubieten. Das ist es, was heute unter «Kommerzialisierung» im Raumfahrtbereich verstanden wird. Die Europäische Weltraumorganisation (ESA) hat dies als ernstes Risiko erkannt, da der europäische Weltraumsektor durch den raschen Anstieg an staatlichen Investitionen in Übersee ins Hintertreffen geraten könnte.
Renato Krpoun hat an der ETH Lausanne studiert und promoviert und ein MBA an der Universität St. Gallen absolviert. Beruflich war er in verschiedenen Positionen, hauptsächlich in der Raumfahrtindustrie, in der Schweiz, den USA und Brasilien tätig. Seit 2016 ist er Leiter der Abteilung Raumfahrt im SBFI. Renato Krpoun vertritt die Schweiz seit mehreren Jahren im ESA-Rat auf Delegiertenebene. Als Vorsitzender dieses Rates wird eine seiner Hauptaufgaben darin bestehen, die Arbeit des Rates zu leiten und die Vorbereitung seiner Entscheidungen in enger Zusammenarbeit mit den Mitgliedstaaten und dem Generaldirektor der ESA, Josef Aschbacher, sicherzustellen. Unterstützt wird er von Miguel Belló Mora (Spanien) und Frank Monteny (Belgien), die als Vize-Vorsitzende amtieren. Bild: Monique Wittwer
Wo bestehen Chancen für die Schweiz?
Mit neuen Technologien, beispielsweise der Quantentechnologie, werden neue Märkte im Bereich der sicheren Kommunikation oder der Kryptographie entstehen. Auch für die Life Sciences gibt es grosses Potenzial. Beispielsweise könnten neue Medikamente im Weltraum unter besonderen Bedingungen getestet und entwickelt werden, was einen entscheidenden Marktvorteil bringen kann. Das SBFI arbeitet darauf hin, dass Unternehmen über den Raumfahrtsektor hinaus in die Lage versetzt werden, neue Geschäftsfelder zu erschliessen oder existierende zu erweitern. Die Kommerzialisierung ist deshalb auch eine Chance für den Raumfahrtsektor in der Schweiz.
Wie ist die Weltraumpolitik der Schweiz mit derjenigen von anderen Staaten verknüpft?
Die intensive Zusammenarbeit mit unseren europäischen Partnern und darüber hinaus ist und bleibt für den Bundesrat zentral und die ESA unser Hauptinstrument für die Umsetzung der Forschung und Entwicklung in der Raumfahrt. Die Schweiz ist Gründungsmitglied der ESA und bestens in deren Raumfahrtprogramm eingebettet. Überdies beteiligt sich die Schweiz auch an Teilen des EU-Weltraumprogramms EGNOS/Galileo sowie an der Erdbeobachtungskomponente von Copernicus.
Viele Staaten haben eine nationale Raumfahrtpolitik mit je eigenen Zielen und Ambitionen. Generell stellen wir fest, dass dem Weltraum und der Raumfahrt ein immer stärkeres strategisches Gewicht gegeben wird, deshalb finden sich je nach Staat auch Ziele im Bereich der Sicherheit und Verteidigung.
Und mit derjenigen der Europäischen Union?
Die Europäische Union gestaltet ihre Raumfahrtpolitik in Absprache mit ihren Mitgliedstaaten. Viele davon sind auch Mitglied der ESA. Sie zielt darauf ab, den wissenschaftlichen und technischen Fortschritt, die industrielle Wettbewerbsfähigkeit sowie die Umsetzung ihrer Politik zu fördern. Die Flaggschiffprogramme der EU wie Galileo, Copernicus und künftig IRIS2 werden von der ESA entwickelt. Durch ihre ESA-Programmbeteiligungen ermöglicht die Schweiz ihrer Wissenschaft und Industrie, sich an den Entwicklungsarbeiten zu beteiligen.
«Die Schweiz ist Gründungsmitglied der ESA und bestens in deren Raumfahrtprogramm eingebettet.»
Wie wird die Wettbewerbsfähigkeit des Schweizer Raumfahrtsektors durch die neue Weltraumpolitik gefördert?
Die Schweiz hat – im Gegensatz zu anderen Staaten – eine Weltraumpolitik, die in vielen Bereichen bottom-up funktioniert. Wir haben kein staatliches Raumfahrtprogramm. Schweizer Akteure aus Wissenschaft und Wirtschaft leisten dort Beiträge, wo sie am stärksten sind. Die Vernetzung zwischen ihnen ist dabei unerlässlich für den Erfolg. Die ESA bietet diverse Programme, welche die Entwicklung von Technologien und Produkten im Raumfahrtbereich ermöglichen sollen. Das SBFI unterstützt zusätzlich Vorhaben, die einen Wissens- und Technologietransfer ermöglichen – zum Beispiel via MARVIS. Mit diesem Instrument fördert der Schweizerische Nationalfonds multidisziplinäre Projekte in der Weltraumforschung.
Staatliches Handeln ist aber auch auf einer übergeordneten Ebene vonnöten. Das kontinuierliche Engagement der Schweiz für die internationale Forschungs- und Innovationszusammenarbeit hat es der Schweizer Wissenschaft und Industrie ermöglicht, sich zu entwickeln und neue Kompetenzen zu erwerben. Natürlich gibt es auch Top-down-Bereiche, in denen der Staat eine aktive Rolle spielen muss, damit der Zugang zum Weltraum und zu den weltraumbasierten Dienstleistungen für unsere Gesellschaft erhalten bleibt. Da spreche ich insbesondere von Trägerraketen oder kritischen Infrastrukturen.
Und schliesslich soll auch das Raumfahrtgesetz, das wir zurzeit erarbeiten, einen Beitrag leisten zur Standortattraktivität. Satellitenbetreiber aus der Schweiz sollen davon profitieren, dass es in der Schweiz einen klaren Rechtsrahmen für ihre Weltraumaktivitäten gibt.
Mit Marco Sieber hat die Schweiz nach Claude Nicollier wieder einen Astronauten. Wird also bald ein Schweizer zum Mond fliegen?
Das können wir zum jetzigen Zeitpunkt nicht sagen. Marco Sieber befindet sich aktuell in der Ausbildung bei der ESA und wird mit gewisser Wahrscheinlichkeit zuerst zur Internationalen Raumstation ISS fliegen. Dass er aus 22 500 Bewerberinnen und Bewerbern ausgewählt wurde, freut mich persönlich und für die Schweiz sehr. Marco Sieber wird hoffentlich insbesondere die junge Generation für naturwissenschaftliche Themen und die Raumfahrt begeistern. Und für die Wissenschaft sind bemannte Flüge des ESA-Erkundungsprogramms von grossem Interesse. Sie ermöglichen es den Astronautinnen und Astronauten, unser kollektives Wissen zu erweitern. Deswegen hat der Bundesrat in seiner «Weltraumpolitik 2023» bekräftigt, dass die Schweiz weiterhin an der robotischen und bemannten Exploration teilnimmt.
«Die Schweiz hat – im Gegensatz zu anderen Staaten – eine Weltraumpolitik, die in vielen Bereichen bottom-up funktioniert.»
Seit dem 1. Juli 2023 haben Sie für zwei Jahre den Vorsitz des ESA-Rates auf Delegiertenebene inne. Worauf freuen Sie sich am meisten?
Die kommenden Jahre werden für die ESA und Europa wichtig sein. Josef Aschbacher, der Generaldirektor der ESA, hat ambitionierte Ziele vorgelegt, und die Ministerinnen und Minister der ESA-Mitgliedstaaten haben im November 2022 ein Budget in der Höhe von fast 17 Milliarden Euro gesprochen, um diese Ziele zu verwirklichen. Gleichzeitig stehen grosse Projekte der EU an, die durch die ESA entwickelt werden. Als Schweizer kann ich Brücken bauen und dazu beitragen, dass die Raumfahrt in Europa auf ein neues Level gehoben wird. Was für mich persönlich sehr erfreulich ist: Mit Daniel Neuenschwander führt ebenfalls ein Schweizer das Explorationsprogramm. Und die ESA hat seit Kurzem wieder einen Schweizer Astronauten. Wir können uns auf spannende Projekte freuen.