«Ich schätze diese Begeisterung, an etwas richtig Grossem mitzuarbeiten.»

Anna Fontcuberta i Morral ist seit Anfang 2025 Präsidentin der Eidgenössischen Technischen Hochschule Lausanne (EPFL). Im Gespräch erzählt sie von ihren Aufgaben, den Stärken und Prioritäten der EPFL und von ihrer Leidenschaft für die Physik.

14.08.2025
Autor/in: Simone Keller
Eine Frau vor einem Gebäude, in einem blauen Einteiler.
Der Alltag von Anna Fontcuberta i Morral ist ein Patchwork aus akademischer Leadership, Teamführung und Verwaltungsaufgaben. Foto: © 2024 EPFL / Nicolas Righetti – Lundi13

Sie sind seit Anfang 2025 Präsidentin der EPFL. Wie haben Sie diese ersten Monate im Amt erlebt? Was hat Sie am meisten überrascht?

Ich hatte viel Arbeit, gleichzeitig aber auch viel Spass! Während der neunmonatigen Übergangszeit konnte ich die Situation analysieren und mir einige Gedanken über die Art der partizipativen Zusammenarbeit machen, die mir vorschwebt. Seit Januar habe ich mich hauptsächlich um die Zusammenstellung meines Teams gekümmert, die unverzichtbare Grundlage für ein gemeinsames Vorankommen. Ein Wechsel an der Spitze einer Institution ist eine einmalige Gelegenheit für Veränderungen – mit allen Chancen und Risiken, die damit einhergehen. Wie in der Forschung muss man sich die Freiheit nehmen, Neues auszuprobieren, um weiterzukommen.

Wie darf man sich den Arbeitsalltag einer EPFL-Präsidentin vorstellen?

Als Patchwork. Akademische Leadership ist ebenso Teil des Jobs wie Führungs- und Verwaltungsaufgaben. Gleichzeitig bin ich auch Repräsentantin des Instituts und übernehme Kommunikationsaufgaben, um unsere Rolle im Dienst der Gesellschaft zu erklären.

Zudem forsche ich – wie meine Vorgänger auch – immer noch im Labor, jedoch fokussierter und weniger umfassend als zuvor. Es ist wichtig, den Kontakt zur Realität nicht zu verlieren. Für eine Hochschule wie die unsere bedeutet das: Lehre und Forschung.

Wo sehen Sie die grossen Stärken der EPFL?

Mit 18'000 Personen, darunter 14'000 Studierenden, ist die EPFL ein vergleichsweise kleiner Campus, der einen sehr agilen Rahmen für Forschung und Studium bietet. Sowohl die Studierenden als auch die Mitarbeitenden sind hochmotiviert und zeigen einen ausserordentlichen Unternehmergeist. Diese Begeisterung, zum Wohl der Gesellschaft an etwas richtig Grossem mitzuarbeiten, eint uns und ich schätze sie sehr.

Wo möchten Sie als Präsidentin Schwerpunkte setzen?

Mein Ziel ist es, auch künftig ausgezeichnete Bedingungen für Studium und Spitzenforschung zu bieten. Wir müssen die Inhalte und die Art unserer Lehre laufend anpassen und auch immer wieder überdenken, wie wir unsere Forschung planen und vorantreiben. Dies gilt insbesondere im Zusammenhang mit der künstlichen Intelligenz, die ich trotz ihrer Risiken als grosse Chance betrachte. Wir müssen uns immer wieder neu erfinden und überlegen, wie wir unterrichten, wie wir die Forschung vorantreiben und wie wir die teilweise sehr repetitiven administrativen Aufgaben vereinfachen können. Da KI in vielen Bereichen immer mehr Aufgaben übernimmt, können wir uns mehr Zeit nehmen, um unsere Tätigkeiten zu überdenken, besser auf jede und jeden Einzelnen einzugehen und die Zusammenarbeit zu stärken.

Zudem tragen wir der steigenden Anzahl von Studierenden Rechnung und passen unsere Infrastruktur entsprechend an. Erst kürzlich haben wir mit dem Bau von modularen Hörsälen auf dem Campus begonnen. So werden uns mittelfristig, in rund vier Jahren, 1500 zusätzliche Plätze zur Verfügung stehen.

Zur Person

Anna Fontcuberta i Morral (1975) verbrachte ihre Kindheit und Jugend in der Nähe von Barcelona, wo sie später Physik studierte. Nach ihrer Promotion an der École Polytechnique in Palaiseau (Frankreich) forschte sie in den USA und in Frankreich und promovierte 2009 am Walter Schottky Institut der Technischen Universität München in Experimentalphysik. 2008 wechselte Anna Fontcuberta i Morral ans Institut für Materialien der EPFL, wo sie seit 2019 ordentliche Professorin ist. Zusammen mit ihrem Team und den Doktorierenden widmet sich Anna Fontcuberta i Morral der Erforschung von Nanomaterialien. Für ihre Forschungsarbeiten wurde sie mehrfach ausgezeichnet.

Vor welchen Herausforderungen stehen die beiden Eidgenössischen Technischen Hochschulen (ETH) in Lausanne und Zürich aktuell? 

Wir wollen unsere Spitzenposition behalten, vor allem angesichts des wachsenden Einflusses von Wissenschaft und Technik auf den Alltag der Bevölkerung. Wir müssen also antizipieren, was in der Welt von morgen wichtig sein wird.

Eine weitere bedeutende Herausforderung für die EPFL ist unser Budget, da der Bund aufgrund der Schuldenbremse die Mittel für die ETH gekürzt hat. In diesem und im nächsten Jahr können wir noch auf unsere Reserven zurückgreifen. Wir nutzen die Zeit, um zu entscheiden, welche Aufgaben wir priorisieren wollen und worauf wir verzichten können. Zudem werden wir versuchen, den Anteil an Drittmitteln zu erhöhen, vor allem mit Spenden. Insgesamt müssen wir aber wohl mit weniger mehr erreichen.

Sie haben in Spanien Physik studiert – wie sind Sie auf diese Studienwahl gekommen, was fasziniert Sie daran? 

Mir waren schon früh Fächer wie Mathematik lieber, in denen es «genügt», die Zusammenhänge zu verstehen, ohne viel auswendig lernen zu müssen. Wenn man einmal verstanden hat, wie alles funktioniert, eröffnen sich unglaubliche Möglichkeiten. Als mir das klar wurde, wusste ich, in welche Richtung ich mich entwickeln wollte. Ich bin neugierig und möchte verstehen, wie die Welt funktioniert. Und die Physik kann mir dabei helfen. Das ist es, was mich daran fasziniert. 

Ich habe mich auch schon immer stark für Materialien und deren Beschaffenheit interessiert, deswegen finde ich auch die Materialwissenschaften sehr spannend. Und letzten Endes strukturiert die Physik auch unser Denken und die Art, wie wir Probleme angehen. Das ist eine Stärke, die weit über diese Forschungsdisziplin hinaus wirkt.

Sie sind die erste Frau an der Spitze der EPFL und konnten sich in einem nach wie vor stark von Männern dominierten Umfeld behaupten. Was können Sie jungen Forscherinnen diesbezüglich mit auf den Weg geben?

Ich finde, dass im Jahr 2025 «eine Frau an der Spitze von …» kein Thema mehr sein sollte. Im Jahr 1992 gab es an der EPFL nur eine Professorin, heute sind wir 91 Frauen auf 350 VZÄ (Vollzeitäquivalente). Wir befinden uns in einem natürlichen Evolutionsprozess, und diese Beispiele ermutigen junge Frauen, eine akademische Karriere einzuschlagen. Um sie zusätzlich darin zu bestärken, führen wir Events für Schulen oder das Festival Scientastic durch, das es ermöglicht, Wissenschaft und Technologie in den Labors der EPFL zu entdecken.

Wenn Sie zum Abschluss des Interviews einige Jahre in die Zukunft zu schauen versuchen: In welchen wissenschaftlichen und technologischen Bereichen erwarten Sie bahnbrechende Durchbrüche und welche Rolle sehen Sie darin für die EPFL?

Als weltweit anerkannte Eidgenössische Technische Hochschule spielen wir eine Schlüsselrolle bei der Förderung der Grundlagenwissenschaft und der Beschleunigung des gesellschaftlichen Wandels. Unsere Schwerpunkte liegen unter anderem auf den Gebieten der künstlichen Intelligenz und des maschinellen Lernens, der Pflege und des Gesundheitswesens, der nachhaltigen Energien, der Klimatechnologien und nicht zuletzt der Quantenphysik. In all diesen Bereichen verfügen wir über zahlreiche Labors und Mitarbeitende, die mit Leib und Seele bei der Sache sind. Um diese Aktivitäten zu koordinieren und eine grössere Wirkung zu erzielen, habe ich ein Vizepräsidium geschaffen, das diesen strategischen Pfeiler unterstützt.


Kontakt
Maurizio Toneatto, SBFI Hochschulpolitik maurizio.toneatto@sbfi.admin.ch +41 58 462 96 77
Aurélia Robert-Tissot, SBFI Marcel Benoist Stiftung, Hochschulpolitik aurelia.robert-tissot@sbfi.admin.ch +41 58 484 49 41
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Simone Keller